Vorträge Tatort Psychotherapie 

Sexueller Missbrauch: Forschungsergebnisse. Folgen. Behandlungen

Dr. Monika Becker-Fischer



Vortrag: Sexueller und narzisstischer Missbrauch, Prof. Dr. Freyberger

Die Präsentation des Vortrages: Sexueller und narzisstischer Missbrauch von Prof. Dr. Freyberger kann angefordert werden: pdf freyberg@uni-greifswald.de

Vortrag: Nicht alles geht-Ethik in der Psychotherapie aus systemischer Perspektive, Dr. Ulrike Borst

Der Vortrag : "Nicht alles geht" , ist in der Zeitschrift Systeme 2/15 , ÖAS Eigenverlag, Gonzagagasse 11/19 ,A- 1010 Wien, veröffentlicht und kann angefordert werden unter http://www.oeas.at

Weitere Informationen folgen.



Einführung von Christiane Schuhbert


 

In dem Videoclip hörten Sie ein Zitat von Harold Pinter, dem  englischen Regisseur und Schriftsteller. Es verdichtet die Abwehrstrategien und die sozialkognitiven  Abwehrmechanismen, die auch in unseren beruflichen Kontexten wirksam sind.

So können dann ethisch empörende und unliebsame Geschehnisse und Fakten bedeutungslos erscheinen oder  wo möglich vorsätzlich zum Verschwinden gebracht werden.

Viele der  vom Missbrauch Betroffenen haben mittlerweile über die Auswirkungen von Nicht- Handeln  auf den verschieden  sozialen Systemebenen berichtet.

Demonstrative Ignoranz und Gleich-gültigkeit inszenierten durch Schweigen, Ausgrenzung und Ablehnung häufig den sozialen Kältetod.

 

Liebe Kolleg*innen  und Kollegen, liebe Interessierte, liebe Referent*innen und Referenten,

ich begrüße Sie herzlich zu dem heutigen Fachtag, zu diesem für unsere Profession wichtigen und schwierigen Thema.

Wir befinden uns hier im Lesesaal der Bibliothek des Kunsthistorikers und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg.

Diesen Raum würde es ohne die beharrliche Leidenschaft und Liebe  Aby Warburgs, in seinem Fall  zur  Kunst und Kunstgeschichte,  nicht geben.

Es ist ein Raum, der, wie ich  finde, besonders geeignet ist, um gemeinsam themenbezogen über das Mögliche, das Unmögliche und Unmögliches in der Psychotherapie nachzudenken.

Die heutige Veranstaltung hat das Hamburger Institut für Systemische Integrative Studien HISIS  gemeinsam mit dem Institut Verhaltenstherapie Ausbildung Hamburg IVAH organisiert.

HISIS ist ein Fortbildungsinstitut, das durch seine Angebote den  Dialog und die Begegnung zwischen den verschiedenen Richtungen der Psychotherapie und angrenzender Wissenschaften  fördern möchte.

Heute ist die erste Veranstaltung.

 

 

Für die Psychotherapiewissenschaft und die therapeutische Praxis ist die  Psychotraumatologie in den letzten 25 Jahren immer bedeutsamer geworden

Mitte der 90ger Jahre wurden die Traumafolgen für die von den  Vertrauensbrüchen durch ihre Therapeuten betroffenen Patient*innen durch Forschungsergebnisse bestätigt (s. Becker -Fischer u.a.).

Bereits Anfang der 90ger Jahre hatten  sich   schulenübergreifend  einige Fach- und Berufsverbände als "Verbände gegen Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch in Psychotherapie und psychosozialer Beratung" organisiert.

 

Diese Initiative  trug maßgeblich dazu bei, dass der sexuelle Missbrauch in der Psychotherapie seit 1998 nach Paragraph 174 des Strafgesetzbuches als strafrechtliches Vergehen angezeigt werden kann. Die Hürden für eine  Anzeige  sind  für die Betroffenen allerdings   damals wie heute sehr hoch .

Die Forderung nach niedrigschwelligen kostenlosen und qualifizierten Beratungsangeboten für  Patient*innen ist bis heute nicht befriedigend umgesetzt.

Doch gibt es seit 2004  einen  unabhängigen Ethikverein, an den sich Betroffene unentgeldlich wenden können.

 

Die forschungsbasierte Minimaleinschätzung über die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in psychotherapeutischen Behandlungen liegt bei 600 Fällen pro Jahr.

Das entspricht ca. einem Prozent der Behandlungen. Je nach Definition des sexuellen Missbrauchs liegen die Schätzungen höher, bei ca. 10 % der Behandlungen.

 

Die in den letzten Jahren öffentlich gewordenen Fälle sexuellen

Kindesmissbrauchs in den Kirchen, Schulen und Parteien bewirkten einen  breiten gesellschaftlichen Diskurs. Es wurde klar: Kindesmissbrauch reicht in  erschreckendem Ausmaß  bis in die Mitte der Gesellschaft.

Von der Bundesregierung wurde deshalb vor 5 Jahren der Runde Tisch zum Thema: Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeitsverhältnissen und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich initiiert. Dort trafen sich Politiker*innen, Betroffene und Expert*innen und erarbeiteten  Vorschläge zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt. Die vielfältigen Empfehlungen wurden 2011 in einem  Abschlussbericht  veröffentlicht. Ebenfalls durch Beschluss der Bundesregierung wurde vor vier Jahren ein unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs eingesetzt. Sein Auftrag ist es, Empfehlungen des Runden Tisches in der Umsetzung zu unterstützen und der Öffentlichkeit und Politik über den Fortgang der Prozesse zu berichten. In den letzten Jahren wurden Hilfetelefone für Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch  eingerichtet und Schutzprogramme sind angelaufen.

 Seit diesem Jahr sind die Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch sowohl auf der zivilrechtlichen wie auf der strafrechtlichen Ebene erheblich verlängert worden.

 

In allen psychosozialen Berufsverbänden und mittlerweile auch in allen  Fachgesellschaften gibt es Ethikrichtlinien als Selbstverpflichtungserklärungen für die Mitglieder. Die Formulierungen sind unterschiedlich.

Die Ausführungsbestimmungen auch. Viele der Verbände und Fachgesellschaften haben Ethikräte oder Ethikkommissionen.

Es ist also Vieles passiert.

Nur  Politikroutine ? Was hat sich im psychotherapeutischen Feld verändert ?

Neben vielen anderen Ideen und Empfehlungen gibt es die Forderung, die Themen Ethik und Recht  verbindlich als Inhalte in die Ausbildungscurricula aller Psychotherapeutischen Lehrinstitute zu integrieren.

Ebenso sollen die Vermittlung von Wissen über Missbrauchstraumata, deren Folgen und Dynamiken als feste inhaltliche Bestandteile in  allen psychotherapeutischen Lehrinstituten  und allen psychosozialen Ausbildungen  gelehrt werden. Erstaunlich, dass das noch nicht überall geschehen ist.

 

Viele der präventiven Vorschläge beinhalten die Vermittlung von mehr Fachwissen durch Fortbildung,  mehr Aufklärung und mehr Informationen über ethisch professionelle Standards.

Aber wird sich das  sicher notwendige Mehr an Kompetenz und Wissen allein als zielführend erweisen? Welche Ideen gibt es aus professions- und organisationsoziologischer Sicht zur Verhinderung von Missbrauch und zum Gelingen von Prävention?         

 

Im nächsten Jahr soll eine auf Beschluss des Bundestages eingerichtete unabhängige Kommission für die bundesweite Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Institutionen und Familien ihre Arbeit aufnehmen.

Sie ist angesiedelt beim Unabängigen Beauftragten für Sexuellen Missbrauch.

 

Von der Theorie der transgenerationalen Weitergabe grenzverletzender Beziehungen ausgehend, ist das Phänomen des Kindesmissbrauchs nicht isoliert zu betrachten. Auch die Folgen sexualisierter Gewalt in psychotherapeutischen Behandlungen ähneln, wie Frau Dr. Becker- Fischer beobachtet hat, denen des Kindesmissbrauchs.

Angenommen, es würde eine unabhängige Kommission zur institutionellen  Aufarbeitung des sexuellen  Missbrauchs innerhalb des psychotherapeutischen Feldes eingerichtet ?

Nach welchen Prämissen könnte sie sinnvoll gestaltet werden?

Welchen präventiven oder sonstigen Nutzen könnte sie haben?

Wie könnten zukünftige Forschungsprojekte zu dem Thema aussehen?

Auch diese Fragen werden wir vielleicht heute später noch diskutieren.

 

 

In einer ihrer bekanntesten Reden formuliert Ingeborg Bachmann,( Lyrikerin und Schriftstellerin):

 Die Wahrheit nämlich  ist dem Menschen zumutbar“. Und sie meint damit  die Wahrheit, dass es sich ent-täuscht und das heißt, ohne Täuschung und Täuschungen  leben läßt. Das gilt auch für  Psychotherapieverbände, Fachgesellschaften, psychosoziale Institutionen  und  die Ausbildungsinstitute, denke ich.

Das Vertrauen unserer Patienten zu erhalten, ist eines unser wichtigsten Anliegen. Für die  Glaubwürdigkeit der Profession sind wir alle! verantwortlich.

 

Das schließt  Verschweigen, Bagatellisieren und Vertuschen von  Missbrauch aus. 

 

Unsere Patient*innen ganz sicher vor sexuellem und narzisstischem Machtmissbrauch durch Fachpersonal zu schützen wird  auch in Zukunft nicht hundertprozentig  gelingen.

Aber wir dürfen  es, meine ich, als Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Denn, und  ich zitiere noch einmal Ingeborg Bachmann:

Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Dass wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf meine ich kommt es an.“  Auch wenn das Ziel, an dem wir uns orientieren, wenn wir uns nähern sich noch einmal entfernt.“

In diesem Sinne wollen wir uns heute mit dem  Möglichen beschäftigen und uns dabei auf  unsere Kernkompetenzen stützen. Vor allem auf die der Reflexion und die des konstruktiven Fragens.

Wer wenn nicht wir?

 

CHRISTIANE SCHUHBERT

 

Zitat: Bachmann, Ingeborg , Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden S. 76,77 in „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, Piper & Co Verlag, München 1981