Vorträge Tatort Psychotherapie
Sexueller Missbrauch: Forschungsergebnisse. Folgen. Behandlungen
Dr. Monika Becker-Fischer
Einführung von Christiane Schuhbert
In dem Videoclip hörten Sie ein Zitat von Harold Pinter, dem englischen Regisseur und Schriftsteller. Es verdichtet die Abwehrstrategien und die sozialkognitiven Abwehrmechanismen, die auch in unseren beruflichen Kontexten wirksam sind.
So können dann ethisch empörende und unliebsame Geschehnisse und Fakten bedeutungslos erscheinen oder wo möglich vorsätzlich zum Verschwinden gebracht werden.
Viele der vom Missbrauch Betroffenen haben mittlerweile über die Auswirkungen von Nicht- Handeln auf den verschieden sozialen Systemebenen berichtet.
Demonstrative Ignoranz und Gleich-gültigkeit inszenierten durch Schweigen, Ausgrenzung und Ablehnung häufig den sozialen Kältetod.
Liebe Kolleg*innen und Kollegen, liebe Interessierte, liebe Referent*innen und Referenten,
ich begrüße Sie herzlich zu dem heutigen Fachtag, zu diesem für unsere Profession wichtigen und schwierigen Thema.
Wir befinden uns hier im Lesesaal der Bibliothek des Kunsthistorikers und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg.
Diesen Raum würde es ohne die beharrliche Leidenschaft und Liebe Aby Warburgs, in seinem Fall zur Kunst und Kunstgeschichte, nicht geben.
Es ist ein Raum, der, wie ich finde, besonders geeignet ist, um gemeinsam themenbezogen über das Mögliche, das Unmögliche und Unmögliches in der Psychotherapie nachzudenken.
Die heutige Veranstaltung hat das Hamburger Institut für Systemische Integrative Studien HISIS gemeinsam mit dem Institut Verhaltenstherapie Ausbildung Hamburg IVAH organisiert.
HISIS ist ein Fortbildungsinstitut, das durch seine Angebote den Dialog und die Begegnung zwischen den verschiedenen Richtungen der Psychotherapie und angrenzender Wissenschaften fördern möchte.
Heute ist die erste Veranstaltung.
Für die Psychotherapiewissenschaft und die therapeutische Praxis ist die Psychotraumatologie in den letzten 25 Jahren immer bedeutsamer geworden
Mitte der 90ger Jahre wurden die Traumafolgen für die von den Vertrauensbrüchen durch ihre Therapeuten betroffenen Patient*innen durch Forschungsergebnisse bestätigt (s. Becker -Fischer u.a.).
Bereits Anfang der 90ger Jahre hatten sich schulenübergreifend einige Fach- und Berufsverbände als "Verbände gegen Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch in Psychotherapie und psychosozialer Beratung" organisiert.
Diese Initiative trug maßgeblich dazu bei, dass der sexuelle Missbrauch in der Psychotherapie seit 1998 nach Paragraph 174 des Strafgesetzbuches als strafrechtliches Vergehen angezeigt werden kann. Die Hürden für eine Anzeige sind für die Betroffenen allerdings damals wie heute sehr hoch .
Die Forderung nach niedrigschwelligen kostenlosen und qualifizierten Beratungsangeboten für Patient*innen ist bis heute nicht befriedigend umgesetzt.
Doch gibt es seit 2004 einen unabhängigen Ethikverein, an den sich Betroffene unentgeldlich wenden können.
Die forschungsbasierte Minimaleinschätzung über die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in psychotherapeutischen Behandlungen liegt bei 600 Fällen pro Jahr.
Das entspricht ca. einem Prozent der Behandlungen. Je nach Definition des sexuellen Missbrauchs liegen die Schätzungen höher, bei ca. 10 % der Behandlungen.
Die in den letzten Jahren öffentlich gewordenen Fälle sexuellen
Kindesmissbrauchs in den Kirchen, Schulen und Parteien bewirkten einen breiten gesellschaftlichen Diskurs. Es wurde klar: Kindesmissbrauch reicht in erschreckendem Ausmaß bis in die Mitte der Gesellschaft.
Von der Bundesregierung wurde deshalb vor 5 Jahren der Runde Tisch zum Thema: Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeitsverhältnissen und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich initiiert. Dort trafen sich Politiker*innen, Betroffene und Expert*innen und erarbeiteten Vorschläge zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt. Die vielfältigen Empfehlungen wurden 2011 in einem Abschlussbericht veröffentlicht. Ebenfalls durch Beschluss der Bundesregierung wurde vor vier Jahren ein unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs eingesetzt. Sein Auftrag ist es, Empfehlungen des Runden Tisches in der Umsetzung zu unterstützen und der Öffentlichkeit und Politik über den Fortgang der Prozesse zu berichten. In den letzten Jahren wurden Hilfetelefone für Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch eingerichtet und Schutzprogramme sind angelaufen.
Seit diesem Jahr sind die Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch sowohl auf der zivilrechtlichen wie auf der strafrechtlichen Ebene erheblich verlängert worden.
In allen psychosozialen Berufsverbänden und mittlerweile auch in allen Fachgesellschaften gibt es Ethikrichtlinien als Selbstverpflichtungserklärungen für die Mitglieder. Die Formulierungen sind unterschiedlich.
Die Ausführungsbestimmungen auch. Viele der Verbände und Fachgesellschaften haben Ethikräte oder Ethikkommissionen.
Es ist also Vieles passiert.
Nur Politikroutine ? Was hat sich im psychotherapeutischen Feld verändert ?
Neben vielen anderen Ideen und Empfehlungen gibt es die Forderung, die Themen Ethik und Recht verbindlich als Inhalte in die Ausbildungscurricula aller Psychotherapeutischen Lehrinstitute zu integrieren.
Ebenso sollen die Vermittlung von Wissen über Missbrauchstraumata, deren Folgen und Dynamiken als feste inhaltliche Bestandteile in allen psychotherapeutischen Lehrinstituten und allen psychosozialen Ausbildungen gelehrt werden. Erstaunlich, dass das noch nicht überall geschehen ist.
Viele der präventiven Vorschläge beinhalten die Vermittlung von mehr Fachwissen durch Fortbildung, mehr Aufklärung und mehr Informationen über ethisch professionelle Standards.
Aber wird sich das sicher notwendige Mehr an Kompetenz und Wissen allein als zielführend erweisen? Welche Ideen gibt es aus professions- und organisationsoziologischer Sicht zur Verhinderung von Missbrauch und zum Gelingen von Prävention?
Im nächsten Jahr soll eine auf Beschluss des Bundestages eingerichtete unabhängige Kommission für die bundesweite Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Institutionen und Familien ihre Arbeit aufnehmen.
Sie ist angesiedelt beim Unabängigen Beauftragten für Sexuellen Missbrauch.
Von der Theorie der transgenerationalen Weitergabe grenzverletzender Beziehungen ausgehend, ist das Phänomen des Kindesmissbrauchs nicht isoliert zu betrachten. Auch die Folgen sexualisierter Gewalt in psychotherapeutischen Behandlungen ähneln, wie Frau Dr. Becker- Fischer beobachtet hat, denen des Kindesmissbrauchs.
Angenommen, es würde eine unabhängige Kommission zur institutionellen Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs innerhalb des psychotherapeutischen Feldes eingerichtet ?
Nach welchen Prämissen könnte sie sinnvoll gestaltet werden?
Welchen präventiven oder sonstigen Nutzen könnte sie haben?
Wie könnten zukünftige Forschungsprojekte zu dem Thema aussehen?
Auch diese Fragen werden wir vielleicht heute später noch diskutieren.
In einer ihrer bekanntesten Reden formuliert Ingeborg Bachmann,( Lyrikerin und Schriftstellerin):
„Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar“. Und sie meint damit die Wahrheit, dass es sich ent-täuscht und das heißt, ohne Täuschung und Täuschungen leben läßt. Das gilt auch für Psychotherapieverbände, Fachgesellschaften, psychosoziale Institutionen und die Ausbildungsinstitute, denke ich.
Das Vertrauen unserer Patienten zu erhalten, ist eines unser wichtigsten Anliegen. Für die Glaubwürdigkeit der Profession sind wir alle! verantwortlich.
Das schließt Verschweigen, Bagatellisieren und Vertuschen von Missbrauch aus.
Unsere Patient*innen ganz sicher vor sexuellem und narzisstischem Machtmissbrauch durch Fachpersonal zu schützen wird auch in Zukunft nicht hundertprozentig gelingen.
Aber wir dürfen es, meine ich, als Ziel nicht aus den Augen verlieren.
Denn, und ich zitiere noch einmal Ingeborg Bachmann:
„Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Dass wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf meine ich kommt es an.“ Auch wenn das Ziel, an dem wir uns orientieren, „wenn wir uns nähern sich noch einmal entfernt.“
In diesem Sinne wollen wir uns heute mit dem Möglichen beschäftigen und uns dabei auf unsere Kernkompetenzen stützen. Vor allem auf die der Reflexion und die des konstruktiven Fragens.
Wer wenn nicht wir?
CHRISTIANE SCHUHBERT
Zitat: Bachmann, Ingeborg , Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden S. 76,77 in „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, Piper & Co Verlag, München 1981